Zurzeit werden in vielen Städten Übergangsmaßnahmen getroffen, um die Flächenaufteilung der Straße - gemäß den durch die Corona Pandemie beschleunigten gesellschaftlichen Tendenzen - neu zu gewichten. Mit Bodengraphiken wird die Bestandsfläche neu aufgeteilt: weniger Fläche für fahrende und parkende Autos, mehr Fläche für Fußgänger, Radfahrer und Roller.
Die nächste Stufe ist, diese wertvolle Fläche nicht nur kosmetisch, sondern auch radikal baulich den neuen Gegebenheiten anzupassen: Bürgersteige und Straße im herkömmlichen Sinne wird es nicht mehr geben. Es besteht die Chance einer völligen Neugestaltung der Flächen zwischen den Gebäuden, welche das zukünftige Stadtbild grundlegend verändern wird. In einer Designstudie versuchen die Architekten von 3deluxe, diese neuen Möglichkeiten am Beispiel des Times Square darzustellen.
So könnte der Straßenraum der Zukunft aussehen: Die Linearität der klassischen Straße kann entfallen, sie wird ersetzt durch organische, urbane Landschaften, die der modernen Mobilität und dem Fußgänger neue, ineinander verwobene Räume bietet.
Es gibt dynamische Fortbewegungszonen, die der sanften Mobilität zugeordnet sind (Biker, Skooter, Skater, Inliner, Walker, Runner, public e-Transportation) und dazwischen Zonen und Inseln mit unterschiedlichen Angeboten für die fußläufigen Stadtbewohner: kommunikative Sitzzonen, Workout- & Entspannungs-Flächen, Spielplätze, Wasserspiele, Urban Gardening, Grünzonen, Pop-up Bühnen für kulturelle Veranstaltungen, Biergärten, Pop-up Stores, Aufladestationen für E-Mobilität, etc.
Die Straße der Zukunft hat landschaftliche Aspekte: die urbane Landschaft und sanfte Hügel, um die Zonen zu gliedern und den unterschiedlichen Fortbewegungsmitteln durch skateparkähnliches Terrain spielerisch immer wieder Schwung zu geben. Ehemalige Straßenkreuzungen könnten die lebendigen Stadtplätze der Zukunft sein, Knotenpunkte des Stadtlebens, in der eine Verdichtung der urbanen Angebote stattfindet und kleine Entschleunigungsinseln für die Passanten und Beschleunigungs-Hubs für die Mobilen, um zügig durch die Stadt zu surfen.
Auf diese Weise bekommt die ehemalige, menschenunfreundliche Straßenfläche eine neue attraktive Aufenthaltsqualität für die Stadtbewohner, die eng mit der neuen sanften Mobilität verknüpft sind.
3DELUXE´ERFAHRUNGEN IN LITAUEN
Das von 3deluxe konzipierte Projekt V-Plaza in Litauen zeigt Ansätze, wie so etwas bereits real aussehen kann. Die Fertigstellung und Eröffnung des Platzes fielen mitten in die Corona-Pandemie im Frühsommer 2020.
Die offene Platzgestaltung mit ineinander verwobenen Zonen zum Entspannen, Kommunizieren und Spielen und Bereichen für mobile Fortbewegungsmittel wie Fahrräder, Skooter, Skates und Skateboards wurden von der Bevölkerung extrem gut angenommen – der Platz entwickelte sich den ganzen Sommer zum lebendigen, öffentlichen Wohnzimmer der Stadt.
Für die Architekten von 3deluxe ein gelungenes Projekt, um die Zukunft des Stadtraumes ohne Autos zu erforschen – großzügige, einladende und attraktive Flächen für die immer größer werdende Gruppe der Nutzer umweltfreundlicher Individualmobilität im harmonischen Zusammenspiel mit Fußgängern, Spaziergängern und Freizeitsuchenden.
Typ | Urban development |
Standort | Times Square, Manhattan. NYC |
Jahr | 2020 |
Status | Design study |
»Nachdem offensichtlich ist, dass das Auto aus dem Straßenbild nach und nach verschwinden wird, ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, wie die Neugestaltung der Straßenfläche in Zukunft gedacht werden muss.«
DIETER BRELL – CREATIVE DIRECTOR, 3DELUXE
GERHARD MATZIG SÜDDEUTSCHE ZEITUNG NR.302 1.JANUAR 2021
Seine literarische Erfindung „Father Brown" ist dem deutschen Fernsehpublikum als Pfarrer Braun mit Ottfried Fischer in der Hauptrolle bekannt. Das ist eine angemessen harte Strafe für Gilbert Keith Chesterton. Der hat als britischer Literat über den Times Square in Manhattan gelästert: “Was für ein Wundergarten
muss dies für jeden sein, der so glücklich ist, nicht lesen zu können." Der Times Square ist bekannt durch überbordende Leuchtreklame. Unter den Plätzen der Moderne ist er die Lichtgestalt. Den Times Square in New York, eine dubiose, gerade deshalb auch legendär vitale, sich immer wieder kraftvoll neu erfindende Stadtfigur, die sich an der Kreuzung von Broadway und Seventh im (Ex-) Theaterviertel befindet, beleidigt man nicht. Dem Platz huldigt man. Zumal in Selfiezeiten. Es ist der Platz der Plätze, die berühmteste Stadtchiffre der Welt. Wenn man nach „Urbanität" gefragt wird, lautet die plakathaft richtige Antwort: „Times Square"
Wer in der östlichen Peripherie Münchens lebt, in direkter Nachbarschaft von Schwammerl- und Trachtlerweg, somit in einer Art Endzeit-Doppelhaushälften-Da-gobah (das ist der Sumpfplanet aus „Star Wars*), der hat das ganze Jahr über eine etwas irre, aber verständliche Sehnsucht nach dem Times Square. Obwohl das auch ein den New Yorkern nahezu unbekannter Planet ist, an dem man andere Touristen, Leute aus Queens und das perfekte Klischee von Urbanität trifft. Passgenau ereignet sich das zu jener Melancholie, die sich automatisch einstellt, wenn man aus großen, magisch-mythischen Theatern und herrlich Barock'n'Roll-haft stuckverziert aufgeblasenen Hausfassaden erst banal gläserne Versicherungen, dann banale Fast-Food-Löcher, dann banale Pornokinos und schließlich eine banale Teilfußgängerzone macht. In der gerät man seit einigen Jahren in Haft, sobald man einen Kaugummi unsachgemäß entsorgt. Zum Glück sieht man all das nicht. Die Leuchtreklame überstrahlt wie eh und ie alles auf eine gnadenvoll berauschte LSD-Weise.
Heute ist das noch wichtiger als früher. Sogar jetzt, in den pandemischen Zeiten der unsagbar faden Distanzkultur, da wir uns von 2020 endlich distanzieren dürfen, um 2021 wie eine Insel der Immunisierung zu erreichen, werden ein paar Leute zu Silvester am Times Square vorbeischauen. Um halbwegs traditionell bis maskenhaft zeitgemäß das neue Jahr zu begrüßen. Das heißt natürlich: Einer, eine oder sonstiges - je anderthalb Meter Seuchenschutz.
In der sogenannten guten alten Zeit, die man vielleicht mal umbenennen sollte (es ist die Zeit, da Corona ein mexikanisches Bier oder ein japanisches Mittelklasseauto war), versammelten sich am Times Square zu Silvester schon ab dem Nachmittag ein paar Hunderttausend Menschen, um den Countdown unter dem Ball Drop mitzuerleben. Danach stieß man an und bisweilen auch zusammen. Oft mit Menschen. Manchmal, wenn es denn sein muss, mit mexikanischem Bier. Und gelegentlich sogar mit dem einen oder anderen Mittelklasseauto.
Das Urbane daran ist eigentlich vollendet ausbalanciert. Die Stadt, deren Stadtluft einmal frei gemacht hat und die zur Ikonographie des individuellen Lebensglücks wurde, aber das muss wohl vor der Erfindung des Feinstaubs und der Luxusimmobilien gewesen sein, ist idealerweise der Raumabdruck von gesellschaftlicher Teilhabe. Nicht der von Exklusion.
Wobei es das Auto - zumindest in seiner aktuellen Phänotypologie als raumgreifend adipöses Poservehikel, dem zuliebe der ADAC den Umbau von zu kleinen Straßen, zu kleinen Parkplätzen und zu
• kleinen Städten in zu kleinen Ländern erwägt - womöglich nicht mehr in die Zukunft schaffen wird. Jedenfalls nicht in die, die sich das in Wiesbaden und somit auch eher in Dagobah angesiedelte Büro „3deluxe" ausgedacht hat.
So heißt eine Designagentur, die Architektur, Innenarchitektur und Design interdisziplinär verbindet. Weshalb man sich dort, nachdem man kürzlich einen zentralen Platz in Litauen skatertauglich umgebaut hat (der zuständige Oligarch ist Skater), einen Times Square für Manhattan 2.0 ausgedacht hat, wie ihn die Stadtplanung kaum erfinden könnte. Die Soziologie aber schon - und zwar als autoärmere Neugründung dessen, was ein Stadtplatz ist, der kein Parkplatz der (Auto-)Mobilität sein möchte. Sondern ein Stadtpark einer human in die Zukunft weisenden Mikromobilität der Diversität. Die Bilder davon wirken netterweise fast so belustigend wie die Bilder, auf denen man immer die zehn Sachunterschiede finden muss.
Hier sind es Tausende.
Das Bild vom Times Square, einmal mit Autos wie bekannt, einmal ohne Autos, ist das Wimmelbild der Stunde. Es illustriert, wie von Ali Mitgutsch und M.C. Escher inspiriert, eine ferne Welt, die heiter bevölkert wird von Fußgängern, Bikern, Skatern und Rollern. Von Fitnesssüchtigen und Parkplatzbankhedonisten. Von Gehenden, Laufenden, Stehenden, Sitzenden. Von Kunst und Kommerz - und vor allem: von sehr viel Grün im Asphaltgrau der verdichtet überhitzten Hotspots, die die Städte mittlerweile geworden sind.
Wobei es nicht um die Urbanität der statischen Ästhetik oder um einen simplizistisch befeuerten Antagonismus geht (Auto gegen Rad), sondern um das Phänomen einer viel komplexer sich entwickelnden Stadt-Mobilität. Dennoch verbirgt sich auch der nervende Glaubenskrieg in den Bildern. Es wäre aber versimpelnd, nur das sehen zu wollen. Um das ideologisch gemeinte Auto geht es so wenig wie um das ideologisch gemeinte Bike.
Überhaupt ist ja ein Rätsel, warum sich diese Fraktionen immer wieder so konfliktträchtig in die Parade fahren: mal als angeblich SUV-beseelte Satanisten, mal als vorgeblich kriminelle Radlrambos. In Wahrheit ist der nomadisch schon immer geprägte Homo sapiens, der es in die Moderne geschafft hat, im Querschnitt der Zuschreibungen ein oft halbwegs vernunftbegabter Zeitgenosse. Jemand, der oder die immer alles in einem ist. Nur nicht zur gleichen Zeit.
Man ist Fahrradfahrer bei Bedarf (und weil es beglückt), Autoliebhaber aber auch, Fußgänger oft am liebsten - aber man misstraut auch der übergriffig gemeinten Flugscham und liebt die Bahn, die Tram und bisweilen sogar den sensationellen öffentlichen Nahverkehr. Er ist besser als sein Name. Das würde vor allem dann gelten, wenn man in einer sogenannten Metropole wie München nicht gefühlt Tage seines Lebens auf die nächste U-Bahn wartend verbringen müsste. Der Witz an der Mobilität ist die Komplexität und, so das Ideal, ihre Passgenauigkeit. Wer darin Glaubensfragen vermutet, liegt schon falsch.
Die Lösung der Mobilitätsfragen, verknüpft mit Stadt- und Klimaaspekten, Ökologie, Ökonomie und Soziologie, verweigert sich der Zuspitzung. Nur Ignoranten verzieren ihr Auto mit einem „Fuck Greta"-Emblem, das nur das eigene geistige Abgehängtsein emblematisiert. Und nur andere Ignoranten glauben, dass man alle Autos sofort verhaften müsste. Die Realität ist klüger und vielschichtiger als die Debatte.
Die Städte sind das (noch) nicht. Auch wenn es ein paar Pop-up-Radwege in die Medien und ein paar Schanigärten in die Innenstadt geschafft haben. Die Stadt ist immer noch der bevorzugte Lebensraum der Automobilität. Am Times Square steht man auch mal eine Viertelstunde, um die Brandung des Verkehrs zu durchpflügen in der Hoffnung, es zu überleben.
Deshalb hat Dieter Brell, Kreativdirektor und geschäftsführender Gründer von 3deluxe, den Times Square auserkoren, um seine futuristische Platzidee angemessen prominent zu illustrieren. Brell, 60 Jahre alt und glücklicherweise immer noch mit dem anarchistischen Herzschlag eines Skaters vertraut, reanimiert in seiner Vision vom Times Square 2021, „für die es weder einen Auftrag New Yorks noch eine realistische Planung", sondern nur suggestive Renderings gibt, den Kerngedanken der gesamten Städtebaugeschichte. „Es ist das Prinzip Chaos, das in Wahrheit eine intelligent vernetzte Ordnung meint, die wandelbar ist. Die klug ist, unideologisch geradezu.
Verrückt ist, dass sich der Streit um den Innenraum der Städte, der in Wahrheit der Außenraum der darin lebenden Menschen ist, derzeit nur auf zwei Objekte der Begierde oder des Missverständnisses konzentriert: Auto oder Rad. Verkehrlich muss die Stadt aber wieder zum echten Wimmelbild werden. Zu einem Terrain, das sich gerade auch dann lesen, begreifen und mannigfach bespielen lässt, wenn man in einem Wundergarten leben will.